Andachten / Impulse Archive - Seite 15 von 22 - Evangelische Kirchengemeinde Gütersloh

Gedanken zum 3. Son. n. Trin., 28.06.2020, und zu Micha 7,18-20 u. Lukas 15,1-3+11-32

„Jesus sagt: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“          Lk. 19,10

„Suchen und Finden“ – darum geht es in diesem Wochenspruch.

Und um „Suchen und Finden“ geht es in den Texten, die diesem Sonntag zugeordnet sind – und das ist unter anderem fast das ganze 15. Kapitel des Lukasevangeliums. Als Theologiestudenten haben wir immer gesagt: „Das ist das Kapitel der verlorenen Menschen, Tiere und Gegenstände.“ – oder um einige Stichworte zu nennen: „Das verlorene Schaf, der verlorene Groschen und der verlorene Sohn.“

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Haben sie auch schon einmal etwas verloren ?
Einen Schlüssen vielleicht ? Das kann ganz schön ärgerlich sein, wenn man vor der verschlossenen Wohnungstür steht und nicht hereinkommt.
Manchmal sind es aber auch nur Kleinigkeiten. Wo war noch einmal die Schere ? Mein Vikariatsmentor pflegte in so einem Moment immer zu sagen: „Suchen hilft nichts. Nachdenken, wo man sie zuletzt gehabt oder gesehen hat.“

Aber es können auch wichtigere Dinge verloren gehen:
Eine Freundschaft oder eine Partnerschaft zum Beispiel.
Oder der Traum von einem bestimmten Beruf, der von einem auf den anderen Moment zerplatzte.

Und so erfahren wir Menschen auf unseren Lebenswegen immer wieder im Kleinen und im Großen, dass etwas verloren geht. Und manchmal sind es auch wir selbst, die wir uns verlieren. Das lesen wir im Gleichnis vom verlorenen Sohn – doch eigentlich müsste es das Gleichnis von den zwei verlorenen Söhnen heißen.

Und an diesem Sonntag der verlorenen Gegenstände, Tiere und Menschen hören wir von Jesus:
„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“
Dieses Versprechen gilt jetzt auch für uns.

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Doch das mit dem „Suchen und Finden“ ist so eine Sache.
Und zum Thema „Suchen und Finden“ lesen wir etwas sowohl im Prophetenbuch des Micha, als auch im Lukasevangelium. Sie können beide Texte ja einmal nachlesen.

Doch eigentlich ist die ganze Bibel ein Buch, in dem in vielfältiger Weise davon erzählt wird,

  • wie Gott uns Menschen nachgeht
  • wie er immer wieder vergibt, woran wir scheitern
  • wie seine Liebe sich durch schier Garnichts erschüttern lässt
  • wie seine Geduld mit uns unendlich zu sein scheint
  • und wie er einfach nicht von uns, seinen Geschöpfen, lassen kann
  • sondern am Ende immer mit offenen Armen auf uns wartet – wie der Vater in Jesu Gleichnis.

Kurz: die ganze Bibel ist so etwas wie die Liebeserklärung Gottes an uns – oder anders gesagt: Sie ist Gottes Liebesgeschichte mit uns – eine meist sehr einseitige Geschichte, in der er uns immer wieder neu nachgeht um uns zu finden.

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Und genau darum, dass Gott Menschen nachgeht und sie neu findet, geht es auch im Prophetenbuch des Micha.

Gott schickt Micha hier zu seinem Volk, das sich von ihm abgewendet hatte.
Und Gott legt ihm seine Worte in den Mund.
Es sind harte Worte des Gerichts.

Unheil soll über die Städte kommen.
Die Machthaber werden in ihrem unrechtmäßigen Handeln entlarvt.
Sie nehmen den einfachen Menschen ihre Äcker und ihr Hab und Gut weg.
Und für sie ist das Volk nur die Quelle ihrer eigenen maßlosen Bereicherung.
Sie rauben es aus.
Lassen sich bestechen.
Und leben dabei selbst in Saus und Braus.

Gnadenlos rechnet der Prophet im Auftrag Gottes mit den Städten im Land ab, mit den Regierenden, mit den Führenden der Gesellschaft, die sich an all dem Unrecht beteiligen – ja, am Ende rechnet er sogar mit den religiösen Führern ab, die zu allem schweigen – oder ebenfalls mitmachen.

Und auch über das einfache Volk bricht der Prophet den Stab, denn auch sie machen bei Lug und Trug mit wo sie nur können.

„Der beste unter ihnen sei wie ein Dornstrauch und der redlichste unter ihnen schlimmer als eine Dornenhecke“ – sagt der Prophet. Wir würden heute vielleicht sagen: „Der beste und redlichste ist wie Giersch im Garten.“

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Immer wenn ich in den Prophetenbüchern des Alten Testaments lese, dann denke ich: „Irgendwie kommt dir das alles bekannt vor.“
Und wenn ich anschließend in die Zeitung schaue oder Nachrichten höre, denke ich: „So einen Propheten, der schonungslos die Wahrheit sagt, den könnten wir heute auch ganz gut gebrauchen.“

  • „Black lives matter“ – würde er vielleicht auf seinem Plakat stehen haben.
  • Und neben Greta würde er sich für den Erhalt der Schöpfung einsetzen.
  • Er würde die Diktatoren unserer Zeit an ihre Verantwortung für die Menschen ihres Landes erinnern.
  • Den Terroristen vom IS oder von Boko Haram würde er sagen, dass ihre Gewalt und ihr Töten nicht durch auch nur irgendeine Religion auf dieser Erde zu rechtfertigen ist.
  • Und dass wir über unser Verhältnis zu billigem Fleisch nachdenken müssen würde er uns ebenfalls sagen.

So ein Prophet würde heute aber auch

  • strukturelles Unrecht anprangern und die Lieferketten hinterfragen
  • er würde uns sagen, dass wir für Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind, wenn wir Geschäfte mit Ländern machen, die Menschenrechte verletzten
  • er würde uns zwingen die Augen dafür zu öffnen, dass jede und jeder von uns Teil eines ungerechten Systems ist – eines Systems, das wir verändern könnten, wenn wir denn nur wollten.

Er würde keine Ausrede zulassen – kein: „Was kann ich schon tun ?“ und kein: „Da kann man nichts machen.“
Ja, er würde uns allen – Kleinen und Großen gleichermaßen – genauso auf die Füße treten, wie vor gut 2 ½ tausend Jahren es Micha getan hat.
Er würde uns einen Spiegel vorhalten, der schonungslos wiedergibt, was alles bei uns falsch läuft. Und dieser Spiegel würde keine Schönfärberei zulassen, sondern uns die Wirklichkeit ungeschminkt vor Augen malen.
Ja, damals und heute verstehen wir Menschen es hervorragend, uns selbst zu betrügen und Rechtfertigungen für unser Handeln zu finden, das eben nicht zu rechtfertigen ist.

Viel zu oft verlieren wir Menschen so uns selbst – und wir verlieren Gott, weil wir uns von ihm abwenden.

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Aber Gott wäre nicht Gott, wenn diese harten prophetischen Worte seine letzten wären. Und so kann Micha am Ende seines Prophetenbuchs eben auch sagen:

„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat gefallen an Gnade ! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und all unsere Sünden in die Tiefe des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unseren Vätern vorzeiten geschworen hast.“  ( Micha 7,18-20 )

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Vom „Suchen und Finden“ handeln diese Worte. Von Gottes Suchen – und wie er seine Menschen immer wieder neu dadurch findet, dass er ihnen nachgeht und ihnen gnädig ist. Er räumt weg, was wir aufgebaut haben und was uns von Gott, voneinander und auch von uns selbst trennt.

Und er erneuert so immer wieder neu das Versprechen, das er schon den Vorvätern gegeben hat.

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Micha war nicht der letzte Prophet, den Gott zu seinen Menschen geschickt hat.
Immer wieder waren welche nötig.

Und zuletzt ist Gott in Jesus Mensch und unser Bruder geworden – auch wieder, um uns zu suchen und zu finden.

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Und dann ?
Als von Gott neu in den Arm genommene Menschen können wir doch nicht einfach so weitermachen, wie bisher.
Das gilt auch für den verlorenen Sohn, von dem Jesus im Gleichnis erzählt hat. Leider sagt er kein Wort darüber, wie diese Erfahrung ihn verändern hat und wie sein weiteres Leben dann wohl ausgesehen hat.

Aber ich stelle mir vor, dass er von dem Tag an so gelebt hat, dass andere auf ihn aufmerksam geworden sind.

Ja, ich denke, dass er auffiel – durch das, was er tat – und mehr noch durch all das, bei dem er nicht mehr gedankenlos mitmachte.

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Und solche Menschen dürfen wir ebenfalls sein:
Menschen, die auffallen,
Menschen, die sich einmischen,
Menschen, die Unrecht beim Namen nennen,
Menschen, die sensibel sind für andere – auch für den großen Bruder, der ja zuerst gar nicht glücklich über die Rückkehr seines verlorenen Bruders war,
Menschen, die selbst für andere zu Prophetinnen und Propheten werden.

Und wenn sie jetzt sagen: „Das kann ich nicht.“ Dann sagen sie etwas Richtiges.
Wir können das nicht von uns aus.
Aber als von Gott gesuchte und gefundene können wir das und noch viel mehr, weil wir nicht alleine sind.

Amen.

Ihr Pfarrer Ulrich Klein

Liebe Gemeinde!

Der für den kommenden Sonntag vorgeschlagene Predigttext ist uns überliefert im 7. Kapitel des Prophetenbuches Micha. Nach massiven Anklagen und Warnungen angesichts zum Himmel schreiender gesellschaftlicher Missstände endet der Text mit diesen Worten:

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

Was wir hier hören, liebe Gemeinde, ist Evangelium pur, ist Freudenbotschaft. Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt, fragte Micha einst staunend. Doch dieses Staunen geschieht nicht im luftleeren Raum. Sondern es steht am Ende eines Dramas, das man zwischen den Zeilen noch spürt. Darum muss auch davon die Rede sein. Denn wer sich die Zeit und Lebenswelt des Propheten hineinversetzt, den packt die Wut. Landraub ist an der Tagesordnung. Bestechliche Richter sprechen Recht für Geld. Jeglicher Gemeinschaftssinn ist verloren gegangen. Der Prophet klagt das Unrecht an. Sein Buch ist ein Buch für alle diejenigen, die sich auch heutzutage nicht damit abfinden können, dass die Welt so ist, wie sie ist. Denn wer die scharfen, entlarvenden Worte liest, wird nicht umhin können, die Zeitung daneben zu legen und kaum weniger wütend zu sein über Ausbeutung, Korruption und Rechtsbeugung an so vielen Orten dieser Welt in der Gegenwart. Manchmal liegt das Übel ganz nahe. Micha vergleicht die Reichen und Einflussreichen mit Metzgern, die ihren wehrlosen Opfern die Haut abziehen und ihr Fleisch zerlegen. Kein Schelm ist, wer jetzt an Tönnies denkt. Die Zahl der Corona-Infektionen im Schlachtbetrieb vor unserer Haustür und die sich daraus ergebenden Folgen für den Kreise Gütersloh, Warendorf und noch weit darüber hinaus schockieren. Schuldige und Verantwortliche für diese Katastrophe sind schnell gefunden und benannt. Clemens Tönnies an der Spitze, aber auch Politiker und Behörden, die viel zu lange geschwiegen und tatenlos mit angesehen haben, was in der Fleischbranche allgemein und nicht allein dort vor sich geht. Auch die Infizierten selbst sind gegenwärtig einem Spießrutenlauf ausgesetzt, vornehmlich Arbeitskräfte aus Südosteuropa, angeworben und beschäftigt über Sub-Sub-Unternehmer mit Niedrigstlohn-Knebel-Werksverträgen und einquartiert in heillos überbelegte Unterkünfte – häufig in Schrottimmobilien. Dieses ganze System ist krank und menschenunwürdig. Corona ist der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt, dessen Füllstand bis zum Rand allerdings lange vorher schon uns allen vor Augen stand oder hätte stehen können. Wir alle sind Teil des Systems und tragen Mitschuld an den herrschenden Verhältnissen und aktuellen Geschehnissen. Bevor wir also Schuldige oder Sündenböcke suchen und benennen, müssen wir selbst unser eigenes Verhalten kritisch hinterfragen und dürfen nicht die Augen verschließen vor dem Unrecht, das unser eigenes Tun oder Lassen schafft, ermöglicht oder zulässt. Am vergangenen Samstag war in der Neuen Westfälischen ein bedenkenswerter Leserbrief eines Herrn Wildenhof abgedruckt zum Thema, den ich an dieser Stelle in voller Länge zitieren möchte. Da heißt es: „Hunderte Infizierte, Tausende in Quarantäne, der Kreis schließt Schulen und Kindertagesstätten und weitere Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV2 sind nicht ausgeschlossen. Viele geben jetzt der Firma Tönnies bzw. Herrn Tönnies die Schuld. Aber ist es nicht zu einfach? Ist Tönnies nicht das Werk all jener, denen billig vor Qualität geht? Ist Tönnies nicht erst entstanden, weil vielen Menschen die Preise beim Fleischer nebenan zu teuer waren und sie lieber im Supermarkt oder beim Discounter kauften? Das Virus zeigt uns allen sehr deutlich, wie klasse es die ‚Geiz-ist-geil‘- Mentalität findet, egal ob in der Fleischindustrie, bei den umweltbelastenden und teilweise selbst giftigen Produkten aus Fernost oder Schnittblumen aus Afrika, die früher so gut wie jedes Blumengeschäft im eigenen Gewächshaus selbst gezogen hatte. Das Virus kommt nicht von ungefähr und es werden weitere folgen, wenn kein Umdenken stattfindet.“ Zitat Ende.

Jüngst hat mitten in der Stadt der Weltladen Gütersloh neu eröffnet. Manche ärgern sich darüber, andere schütteln verständnislos den Kopf und prophezeien ein rasches Ende des ehrgeizigen Unternehmens. Aber es gibt auch solche, die denken und die sagen: Gerade jetzt und gerade an diesem Standort. Die angebotenen Waren sind allesamt hochwertig und brauchen sich nicht zu verstecken hinter vergleichbaren in anderen Geschäften. Ja, manche kosten ein paar Cent oder auch Euro mehr. Aber dieses Mehr bedeutet einen Mehrwert, der in Euro und Cent gar nicht ausgedrückt werden kann: nämlich Fairness gegenüber Produzenten, Gerechtigkeit und Menschenwürde im Blick auf Arbeitsbedingungen. Bio steht häufig auch noch auf den Verpackungen, das heißt: es wird auf natur- und ressourcenschonende Produktionsbedingungen geachtet zum Wohle unseres Planeten. Für uns gibt es nur diese eine Erde. Meine Empfehlung: Verzehren Sie zum Beispiel eine Tafel Schokolade weniger, was ja auch gar nicht ungesund ist, gönnen Sie sich aber dann und wann eine aus dem Weltladen. Ich verspreche Ihnen: Sie werden begeistert sein von Geschmack und Qualität. Und sollten Sie einen richtig guten fair gehandelten Wein suchen, so sprechen Sie mich gerne einmal darauf an. Ich bin mir selbst und auch Ihnen gegenüber diesbezüglich ganz ehrlich: Das erste und wichtigste Kriterium für mich lautet: Der Wein, die Schokolade, der Kaffee oder ein anderes Genussprodukt muss von guter Qualität und schmackhaft sein. Wenn es darüber hinaus fair gehandelt und mit einem Bio-Label versehen ist, um so besser. Fair und Bio allein ist für mich aber nicht alleiniges Kaufargument, vor allem dann nicht, wenn das Produkt die Magenschleimhaut schmerzhaft angreift oder – mit Loriot gesagt – so ein pelziges Gefühl auf der Zunge hinterläßt.

Nächstes Thema: Karstadt. Die jüngst beschlossene und verkündete Schließung des Standortes Gütersloh trifft vor allem die bisher dort Beschäftigten, aber auch die gesamte Stadt als eine weitere Katastrophe. Ja, wir lasen und hörten von finanzieller Schieflage seit Jahren, auch von Missmanagement in der Vergangenheit. Corona hat dem Unternehmen nun einen weiteren Stoß versetzt. Wir beobachteten und beobachten das mit Sorge. Jetzt empfinden wir Enttäuschung, vielleicht auch Zorn oder Trauer und wir fragen uns bange: Was wird werden? Aber ebenso sollten wir uns fragen: Tragen nicht auch wir mit unserem Kaufverhalten Mitverantwortung dafür, dass unsere Innenstädte mehr und mehr veröden, dass Fachgeschäfte und sogar Kaufhäuser mit breitem Sortiment verschwinden und offenbar nur noch 1-Euro-Shops, Handyläden oder Nagelstudios überleben können, während Internetriesen wie Amazon Milliardenumsätze generieren und weiter und weiter wachsen?

Liebe Gemeinde, ich spreche heute sehr konkret. Denn der vorgegebene Predigttext ist ein prophetischer Text. Und was die uns überlieferte biblische Prophetie auszeichnet, ist eben genau dies: Sie schließt nicht die Augen und den Mund vor den Missständen und drängenden Herausforderungen der jeweiligen Zeit. Sie will aufrütteln, sie will warnen. Sie will zur Besinnung und Umkehr führen. Möglich ist das aber nur dann, wenn Unrecht und Übel nicht totgeschwiegen werden. Nein, das darf um Gottes willen nicht sein. Der Prophet Micha stellt ihn uns vor Augen als den, dessen Vergebung den Zorn noch nicht hinter sich gelassen hat: Die Sünden, dieses himmelschreiende Unrecht, dass den einfachen Leuten widerfahren ist, tritt er kurz und klein und schleudert es ins Meer. Er kann diesen Irrsinn nicht länger mehr ertragen. Er handelt, um etwas Neues zu schaffen. So gibt er seinem Zorn eine klare Richtung: Er tritt die Tat, er trifft das Unrecht selbst und nicht die Täter. In gleicher Weise hat Jesus gehandelt im Umgang mit denen, die Schuld auf sich geladen hatten. Ihre Taten spricht er schonungslos an und verurteilt sie, diejenigen aber, die sich verschuldet haben, nimmt er an und spricht sie frei. So eröffnet er ihnen die Möglichkeit zur Besinnung und Richtungskorrektur auf neuen Wegen. Auf diesen Jesus blickend und ihn als Christus bekennend, stehen wir, liebe Gemeinde, in seiner Nachfolge. Auch wir wissen uns durch ihn begnadigt und befreit, angenommen und geliebt und brauchen gerade deshalb bestehendes Übel nicht zu verschweigen. Gott in und durch seinen Christus eröffnet uns einen weiten Raum für Neues dank des Zuspruches der Vergebung, der uns ermutigt und kräftigt zu einem Leben und Zusammenleben, das gekennzeichnet ist von Gerechtigkeit und Gemeinsinn. Dankbar dafür und darüber staunend können wir deshalb nun auch mit Micha sprechen: Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Amen.

Ihr Pfarrer Eckhard Heidemann

Predigt: Exaudi, 24.05.2020, Jer. 31,31-34

31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,

32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR;

33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.

34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.

 

Liebe Gemeinde,

ja, es ist oft schwierig – das mit unserem Verhältnis zu Gott.
Wenn es uns gut geht, vergessen wir ihn gerne.
Und wenn einmal etwas nicht so läuft, wie wir es uns gewünscht haben, dann hadern wir mit ihm und fragen wo er denn sei und warum er nicht eingreift und hilft.
Und in den Zeiten der Pandemie sprechen sogar einige davon, dass dies Gottes Strafe für unseren Ungehorsam sei. Aber das ist natürlich völliger Quatsch.
Trotzdem: Nur zu gerne hätten wir Gott als jemanden an unserer Seite, der für uns verfügbar ist und den wir zu unserem Vorteil beeinflussen können.
Aber genau so ist Gott nicht.
Er ist für uns nicht verfügbar.
Und er lässt sich auch nicht durch uns manipulieren oder beeinflussen.
Gott ist mehr, als wir begreifen können.
Und auch sein Handeln können wir nicht „begreifen“ – im Sinne von: mit unseren Händen greifen und festhalten – mit unserem Verstand erkennen und verstehen.
Gott ist mehr und größer.
Und vor allen Dingen haben wir ihn nicht in unserer Hand.
Aber das Umgedrehte gilt: Gott hat uns in seiner Hand.
Nicht wir ihn – aber er uns !
Und seine Hand meint es gut mit uns – auch dann noch, wenn wir vielleicht einmal denken, dass sie uns zu fest drückt.

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Gerade haben wir einen Abschnitt aus dem Prophetenbuch des Jeremia gehört.
In diesem Abschnitt ging es auch um das Verhältnis zwischen Mensch und Gott.
Dabei erinnert der Prophet seine Zuhörerinnen und Zuhörer an die lange Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel.
An der Hand habe er dieses Volk genommen und aus der ägyptischen Sklaverei in die Freiheit geführt.
Genau an dieses Volk habe Gott sich gebunden.
Diesem Volk hat er seine Liebe geschenkt.
Er hat sich ihrer in ihrer größten Not angenommen.
Aber dieses Volk hat Gott nicht für sein Tun gedankt, sondern hat sich vielmehr von ihm abgewendet.
Es hat den Bund, den Gott mit ihm geschlossen hat, nicht erwidert, sondern gebrochen.
Und Gott ?
Er lässt sich „Gott sei Dank“ nicht so schnell von uns frustrieren.
Er kündigt vielmehr einen neuen Bund an, den er mit seinen Menschen schließen will.
Und jetzt sollen die Gesetze Gottes nicht mehr nur in Stein gemeißelt im Tempel von Jerusalem stehen,sondern seine Gesetze will Gott in die Herzen der Menschen geben.
Alle sollen so erkennen, dass er ihr Gott ist – und dass sie seine Menschen sind.
Sozusagen eine Verbindung von Herz zu Herz mit nichts dazwischen, was trennen könnte.
Und weil es immer etwas gibt, das uns von Gott trennt, nimmt Gott dies zuvor weg.
Wir haben ja von ihm gehört:
„Denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.“
Gott selbst nimmt weg, was uns von ihm trennt.
Er nimmt weg, was uns untereinander trennt.
Und er nimmt weg, was uns davon abhält die Menschen zu sein, zu denen er uns eigentlich erschaffen hat.
Und dann kann das auch klappen mit der Verbindung von Herz zu Herz – mit der Verbindung, bei der uns nichts von unserem Gott trennt.

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Aber wie gesagt: Das mit unserem Verhältnis zu Gott ist schwierig.
Denn zu selbstverständlich meinen wir, dass wir die Herren dieser Welt sind.
Nur zu gerne nutzen wir hemmungslos die Möglichkeiten dieser Erde anstatt sie verantwortlich „zu bebauen und zu bewahren“.
Immer weiter verschieben wir die Grenzen des Möglichen ohne die Konsequenzen zu bedenken oder auch nur zu kennen.
Wohin mit dem Atommüll ? Wir wissen es nicht wirklich.
Was ist mit dem Nitrat in unserem Grundwasser ?
Was ist mit dem Ausbreiten von multiresistenten Keimen durch den massenhaften Gebrauch von Antibiotika ?
Was ist mit den sogenannten Lieferketten ? Wollen wir uns wirklich für die Menschenrechte in Asien einsetzen oder doch nur lieber von einer billigen Produktion profitieren ?
Vom Klimawandel mit all seinen Folgen ganz zu schweigen ?
Für mich haben diese – und noch ganz viele weitere Fragen – mit unserem Verhältnis zu Gott zu tun.
Oder sollte ich besser sagen: Mit unserem „Nichtverhältnis“ zu ihm ?
Mit unserem Abwenden von ihm, wie es schon vor über 2 ½ tausend Jahren – wir haben es gehört – das Volk Israel tat ?
Überall da, wo wir Menschen meinen, wir brauchen Gott nicht, geht etwas schief.
Überall da, wo wir uns selbst zum Maßstab und uns selbst zu Göttern erheben, geht noch mehr schief.
Überall da, wo wir meinen Gott spielen zu können, schaufeln wir uns langfristig gesehen selbst unser Grab.
Haben wir nicht erst vor Kurzem erkennen müssen, wie wenig wir einen kleinen Virus im Griff haben ? Einen Virus, der in kürzester Zeit das Leben auf der ganzen Erde völlig auf den Kopf gestellt hat und immer noch stellt ? Wir sehen es ja auch an der Art, wie wir z.Z. Gottesdienst feiern müssen.
Und noch viel weniger gelingt es uns auf dieser Erde Frieden für alle zu erreichen – und eine gerechte Verteilung der Güter dieser Erde – und freien Zugang zu Schule und Gesundheitswesen – und zu sauberem Trinkwasser !
Denn genau das ist das Problem, dass wir Menschen meinen wir hätten alles selbst im Griff – und das Gegenteil ist der Fall.
Das ist unsere „Missetat“ und unsere „Sünde“ – wie wir es gerade aus dem Mund des Propheten gehört haben.
Wir haben noch nicht einmal diese Erde im Griff.
Wieviel weniger haben wir dann den Gott im Griff, der Schöpfer Himmels und Erdens ist !
Heute halten uns die alten Worte der Bibel einen Spiegel vor, in dem wir genau dies erkennen.

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Wir haben Gott nicht im Griff – aber er uns.
Und dabei meint er es gut mit uns, auch wenn seine Geschichte mit uns Menschen in vielen Teilen eine Geschichte der nicht-erwiderten Liebe ist.
Dabei will er genau mit seiner Liebe unser Herz anrühren.
Er will unser Gott sein und wir dürfen seine Menschen sein.
Lassen wir das doch einfach einmal zu und vertrauen uns ihm an – und vertrauen wir den Geboten, die er ebenfalls mitten in unser Herz pflanzt.
Sie wollen uns helfen Mensch zu sein – im Gegenüber zu unserem Gott und im Miteinander zu allen Menschen hier auf der Erde.
Werden wir demütiger, denn wir sind nicht die Herren dieser Erde.
Werden wir verantwortlicher in unserem Umgang mit dem, was Gott uns anvertraut hat.
Und werden wir achtsamer im Umgang miteinander.
Und vertrauen wir einfach darauf, dass es gut ist, dass Gott uns in seiner Hand hält – auch wenn wir ihn manchmal in dem, was geschieht und was er zulässt, nicht verstehen.
Dann ist unser Vertrauen darin gefragt, dass er trotzdem unser Gott ist und wir seine Menschen sein dürfen.

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Das alles sagt der Prophet schon vor über 2 ½ tausend Jahren den Menschen in Israel und Juda.
Und wir, die wir gerade vom Osterfest herkommen, wissen, dass diese Worte Gottes bis heute auch für uns gelten.
Vertrauen wir ihnen – mehr, als wir uns selbst vertrauen, und auch mehr, als wir anderen Menschen vertrauen.
Vertrauen wir uns immer wieder neu dem Gott an, der „unsere Missetat vergibt und an unsere Sünde nimmermehr gedenkt“.
Der mit seinem Herz auch unser Herz anrührt.
Der uns an die Hand nehmen will, damit wir zusammen mit ihm das Leben auf dieser Erde gestalten.
Oder ganz einfach mit den Worten Gottes aus unserem Text gesagt:
„Sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.“
Lassen wir zu, dass es so ist !

Amen.

Ihr Pfarrer Ulrich Klein

Stefan M. P:
Lieber Stefan,
in meinen Augen ist ein wichtiger Bestandteil des heutigen Aktionstages neben der Sichtbarkeit nach außen  durch Stände, Musik, Luftballons oder Flaggen die innere Sichtbarkeit des Themenkomplexes sexuelle, emotionale und geschelchtliche Identität. Dabei ist für mich entscheident erst den Menschen als ganzes zu betrachtet und dann auf die selbstdefinierten Zuschreibungen zu schauen. Die Worte "Ich bin... trans*/schwul/lesbisch etc." ändern nichts an dem Menschen in seiner Gesamtheit. Allerdings besitzen die Worte des Comings-outs eine Wirkung, die von vielen gesellschaftlichen Normen befreit und eine innere Sichtbarkeit schafft für das eigene Sein. Jedes Outing und jede Regenbogenflagge ist ein Statment. Sieh her, hör hin. Es gibt mich und ich bin in meinem Menschsein in einer Facette so oder so. Die Normen in denen wir leben lassen Abweichungen selten zu. Jede Abweichung muss erklärt, benannt werden. Ich will diese Abweichungen benennen und klar machen, dass es keine sind, sondern das es sich dabei um gesellschaftliche Realitäten handelt, die Sichtbarkeit verlangen, nach innen wie nach außen.

Stefan S.:
Ich möchte, lieber Stefan,
deinen Gedanken eine biblische Perspektive an die Seite stellen:  Das “Hier bin ich” des Mose am brennenden Dornbusch. Die erzählte Situation gehört zu den Schlüsselszenen der Bibel: Gott sieht das Elend und hört das Seufzen seines Volkes, das in der Sklaverei gequält und geschunden wird. Er will es in die Freiheit führen und spricht dazu Mose an. Der ist ins Exil ins Ausland geflohen und gerade in der Steppe unterwegs, jenseits des normalen Alltags. Da trifft ihn der Anruf Gottes. Und er antwortet: “Hier bin ich!”

Darum geht es immer wieder im Menschsein, finde ich:  Dass du sagen kannst: “Hier bin ich.” - dann, wenn Du gefragt bist oder angesprochen, wie immer das sein mag: ein Mensch, der dich jetzt in diesem Moment gerade braucht, oder eine plötzliche Klarheit: ja, das ist jetzt dran für dich! Oder vielleicht eher eine Ahnung, eine Sehnsuchtsspur: da zieht es dich hin. Es gibt diese Rufe, die dir im Leben entgegen kommen und darin – möglicherweise - auch die Stimme Gottes.

“Hier bin ich” – darauf kommt es an, das sagen, das leben zu können: mit deiner Person, so wie Du geschaffen und geworden bist: mit deinen Gaben und Grenzen, mit deiner Lust, deiner Art zu lieben, mit Deinen Unsicherheiten und Verletzungen. Du! Du musst das nicht als strahlende Heldin sagen: „Hier bin ich!“ oder als cooler Typ. Es geht darum, dass Du dich zur Verfügung stellst, so wie es Dir gerade möglich ist.
Es gibt für uns Menschen, die wir sagen können: „Hier bin ich“ und die darin ja ganz unterschiedlich sind, etwas Verbindendes: Wir sind immer wieder gefordert, und ich würde sagen:  von Gott gerufen, diese Welt solidarischer, menschlicher, klimafreundlicher zu gestalten. Sie zu einem guten Ort für alle zu machen. Gerade jetzt, wenn wir nach Corona uns neu ausrichten! Wenn wir das Anders-Sein  des Menschen neben uns, der das auch sagt: „Hier bin ich“, wenn wir das nicht bekämpfen oder abwerten, sondern als Reichtum begreifen, dann können wir uns dabei einander stärken. Dann können wir einander helfen, uns dieser Kraft Gottes zu öffnen, die uns befreit.

Stefan M. P.:
Hier, bin ich! Ein Satz, der schwer über die Lippen geht, wenn die ganze Welt gegen einen zu stehen scheint. Wenn die Vorstellungen der anderen über das eigene Leben einen zu erdrücken scheinen, dann ist ein leises “Hier bin ich” ein Satz voller Hoffnung, Vertrauen und Freiheit. Auch, wenn du der einzige Menschen bist, der hört wie du ihn sagt. Du bist der Menschen, der die Freiheit hat Mensch zu sein – mit jeder Facette.

Diese Freiheit verblasst, wenn Gewalt, verletzende Worte und Verleumdung, das eigne Leben pflastern. Aber glaub mir, es wird Menschen geben, die dir zur Seite stehen, eine Schulter einbieten und den Weg mit dir gehen. Es wird Menschen geben, die aufstehen gegen Gewalt, in Taten und Sprache. Es wird Menschen geben, die mit einem lauten “Wir sind hier!” sich gegen jede Verleumdung stellen und sichtbar sind, für und mir dir! Es gibt Menschen, die noch suchen nach den Worten, wie sie leben, lieben und sind. Es gibt Menschen, wie dich!

Und dein “Ich bin hier, ich bin trans*.

Dein “Hier bin ich, ich bin lesbisch.”

Dein “Ich bin bi, ich bin hier.” Wird ein Teil von dem lauten, unüberhörbaren und kraftvollem “Wir sind hier! Wir sind queer!”

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