4. Sonntag nach Trinitatis, 5.Juli 2020 Ansprache zu Römer 12, 17-21
„Ist es möglich, so viel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden“
Was für ein großes Wort: „Frieden“!
Es gibt nur wenige Wörter von diesem Format.
Frieden – Ziel millionenfacher Sehnsucht.
Aber auch das Ziel millionenfach enttäuschter Hoffnung.
Denn die Mächte, die dem Frieden im Wege stehen, sind stark. Und es sind viele:
Egoismus, Ideologie, Religion – und all der Hass, der daraus erwächst.
Die Verletzungen, die nicht verheilt sind.
Und dann natürlich wirtschaftliche Interessen oder gar pure Gewinnsucht – wie viele Kriege werden um knappe Ressourcen geführt.
Es ist so schwer, etwas für den Frieden zu tun.
Da geben viele auf, bevor sie richtig damit begonnen haben, weil sie sich ohnmächtig fühlen.
Allein gegen die Mächte und die Mächtigen der Welt – wer will das schon?
Und wer kann das schon?
„Ist es möglich, so viel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden,“ sagt Paulus.
Ist es denn möglich?
Mit allen Menschen Frieden zu haben?
Wie sollen wir das anfangen?
Trotz aller großen Weltpolitik liegt die Quelle des Unfriedens in der Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen.
Feindschaft und Krieg entstehen zwischen Menschen – sie wachsen nicht aus dem Boden.
Bevor die Bibel von einem Krieg zwischen Völkern erzählt, berichtet sie vom tödlichen Streit zwischen Kain und Abel.
Und weil das so ist, hat die Hoffnung einen guten Grund, auch der Frieden könnte zwischen zwei Menschen beginnen.
Dadurch, dass einer lernt, sich selber anders zu sehen.
Dadurch, dass einer lernt, den anderen anders zu sehen.
Und vor allem dann dadurch, dass aus dieser anderen Sichtweise auch eine andere Verhaltensweise erwächst.
Unser Handeln wird davon bestimmt, wie wir die Welt sehen. Und vor allem davon, wie wir uns selbst in dieser Welt sehen.
Kain wird zum Mörder, weil er sich selbst als Opfer sieht. Er sieht sich als Opfer der Willkür Gottes, der Abels Opfer gnädig annimmt, seins aber nicht. Er steht vor seinem Opferaltar und weiß, dass er zu kurz kommt:
Er bekommt weniger Liebe von Gott als der Bruder. Der nimmt ihm alles weg. Und wenn es den Bruder nicht gäbe, dann wäre genug Liebe für ihn da.
Denkt er.
Dass diese Rechnung nicht aufgeht, erkennt er zu spät.
Aber genau das ist die Dynamik, aus der heraus Unfrieden und Krieg entstehen.
Wer sich selbst als Opfer sieht, möchte gern auch mal der Gewinner sein – notfalls mit Gewalt.
Dazu kommt die Angst, bedroht zu sein.
Auch dies dient nicht dem Frieden. Denn die Konsequenz der Angst ist das Bedürfnis, sich vor anderen zu schützen.
Nein, das passiert nicht nur zwischen Völkern. Auch das beginnt zwischen Menschen.
Gerade die, die sich selbst schwach fühlen, schlagen sicherheitshalber erst mal zu. Es ist ein unheilvoller Glaubenssatz, dass man Stärke nur mit Stärke begegnen kann und Schlägen nur mit Schlägen.
Christen haben andere Glaubenssätze:
„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist es möglich, so viel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst.“
Solche Glaubenssätze können wirksam werden, weil Christen auch eine andere Sicht der Welt haben – und vor allem: eine andere Sicht von sich selbst.
Christen wissen sich von Gottes Segen begleitet.
Christen glauben daran, dass Gott ihnen Chancen zum Leben schenkt.
Christen wissen sich von Gott bejaht und leben aus seiner Gnade.
Mit diesen Glaubenssätzen begegnen Christen der Welt und anderen Menschen.
Und im Licht solcher Sätze lernen sie sich selbst neu sehen.
„Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahin gegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“
Das ist es, daran erinnert Paulus uns einige Kapitel zuvor.
Es ist nicht gleichgültig, mit welchen Glaubenssätzen man in seinem Leben unterwegs ist.
Aus dem Gefühl, ständig benachteiligt zu sein, immer um das Leben betrogen zu werden, zu kurz zu kommen, resultieren Streit und Kampf – Quellen des Krieges.
Aus dem Wissen, mit dem Leben beschenkt, in der Liebe geborgen zu sein und vom Segen begleitet zu werden, resultieren Entspannung und Geduld – Quellen des Friedens.
Unser Handeln wird davon bestimmt, wie wir die Welt sehen. Und vor allem davon, wie wir den anderen in der Welt sehen.
Welche Sicht wir als die unsere übernehmen:
Die, die uns die Welt nahe legt,
oder die, die wir lernen können, wenn wir andere Menschen mit den Augen Christi anschauen.
„Sei auf der Hut vor dem anderen“ sagt dir die Welt, „er ist dein Konkurrent und wird jede deiner Schwächen ausnutzen.“
Und ein Allerweltssatz lautet: „Alles, was fremd ist, ist bedrohlich“
In einer Welt, die von solchen unguten Ratschlägen bestimmt wird, hat sich auch Jesus bewegt.
Hier Pharisäer – da Sünder.
Hier Gesunde – da Aussätzige.
Aber er ist zu den Ausgegrenzten gegangen und hat die Trennungen überwunden. ALLE hat er mit Gott in Verbindung gebracht, die einen wie die anderen:
Die Pharisäer und die Sünder, die Gesunden und die Aussätzigen. ALLE hat er als Menschen gesehen, die Gott geschaffen hat und die er liebt.
Und er hat sie als Menschen gesehen, die bedürftig sind, die Zuwendung und Hilfe brauchen.
Und genau das lernen Christen von dem Sohn Gottes, wenn sie auf seinen Wegen gehen.
Der Mensch, der mir begegnet, ist ein Mensch, den Gott gewollt hat – genau wie mich.
Er wird sich etwas dabei gedacht haben. Er sieht etwas in diesem anderen Menschen, das ich nicht sehen kann. So wie er in mir etwas sieht, das andere Menschen vielleicht nicht sehen.
Der Mensch, der mir begegnet, ist unendlich wertvoll.
Mit den Augen Gottes gesehen, ist jedes Menschenleben unersetzlich. Und jeder Mensch ist eine Bereicherung dieser Welt.
Das ist doch eine wunderbare Sicht auf den anderen: genau hinzuschauen, womit gerade dieser Mensch die Welt bereichert.
Der Mensch, der mir begegnet, darf zu Gott „Vater“ sagen – so wie ich. Und damit wird man zu Geschwistern. Das bedeutet: es gibt bei allem, was uns trennen mag, etwas ganz Tiefes, das uns verbindet.
Etwas Gemeinsames, in dem wir uns immer wieder finden können.
Eine Familie, zu der wir gehören, und in der Menschen auf das Gute setzen.
„Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“ So meint es Paulus.
Frieden – dieses große Wort.
Es wird konkret und greifbar, wenn ich auf das schaue, was an mir liegt.
Wenn ich Schritte gehe, die ich gehen kann.
Wenn ich die neue Sicht nutze, für die mir Jesus die Augen öffnet:
Eine neue Sicht auf mich selbst und eine neue Sicht auf den anderen Menschen.
Die neue Sicht eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten – Schritte auf dem Weg des Friedens.
Ob ich sie gehe, das liegt an mir!