Andachten Archive - Seite 11 von 15 - Evangelische Kirchengemeinde Gütersloh

6. Sonntag nach Trinitatis

Lieber Leser, liebe Leserin,

Von keinem geringeren als Martin Luther wird berichtet, dass, wenn es ihm nicht gut ging, er sich aufschrieb „Baptisatus sum! ich bin getauft!“ und mit einem Stein zur Befestigung auf seinen Tisch legte, damit diese Gewissheit nicht vom Winde verwehen konnte. Denn es brachte ihm große Gewissheit und neues Vertrauen, wenn er sich seiner Taufe vergewisserte.

Der (heutige) 6. Sonntag nach Trinitatis ist der Tauferinnerung gewidmet. Wir sollen oder dürfen oder möchten uns unserer Taufe erinnern: Als unsere Eltern uns vor Gott gebracht haben, der uns unsere Wesen, unsere Gestalt und unsere Schönheit gegeben hat. Bei der Taufe reichten sie uns sozusagen zurück an den Schöpfer alles Lebendigen und vertrauten uns ihm für den weiteren Weg an. Es ist selbstverständlich, dass Eltern, die ein gesundes Kind empfangen haben, tiefe Dankbarkeit empfinden. Es hätte ja auch ganz anders kommen können. Und so haben unsere Eltern mit dem Weg zum Taufbecken gesagt: Hier ist unser Kind. Wir haben es von dir, Gott. Es gehört nicht uns. Wir bitten dich, es zu behüten, zu führen und zu segnen. Wir bitten dich, bei ihm zu sein, auch und gerade, wenn das Leben Schweres bringen wird. Die Taufe ist eine Art Adoption eines Menschen durch Gott: wir bitten Gott, der dieses Kind geschaffen hat, er möge ihm (auch) Vater und Mutter sein. Die leiblichen Eltern wird es eines Tages verlieren, aber Gott bleibt. Jesus selbst hat sich einer Erzählung der Evangelien zufolge taufen lassen. Als er aus dem Jordan gestiegen sei, habe eine Stimme gesagt: Das ist mein lieber Sohn. So möchte Gott auch über dem eigenen Kind sprechen: Das ist mein geliebtes Kind.

Das verändert die Perspektive. Es steht nicht einer unbekannten Macht gegenüber, sondern dem liebenden Gott, der schon durch den Propheten Jesaja sagen lassen hat: „So spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ (Jesaja 43,1)

Oft wird dieses Wort bei Taufen gesprochen. Es kehrt Beruhigung ein: Nicht eine Nummer sind wir bei Gott, sondern er kennt uns bei unserem Namen. Ich denke daran, wie Gott im Paradies nach Adam ruft: Adam, wo bist du? oder wie Gott zweimal den Abraham ruft: Abraham! Abraham! um zu verhindern, dass sein Sohn Isaak sterben muss. Oder Maria wird am Ostermorgen vom Auferstandenen, von dem sie meinte, er sei der Gärtner, aus ihrer Trauer gerufen. Wenn ich bei meinem Namen gerufen werde, fühle ich mich persönlich angesprochen. Dann kann ich nicht ausweichen.

Bei unserer Taufe sind wir zum ersten Mal von Gott bei unserem Namen gerufen worden. Vielleicht ist dabei sogar dieses Jesaja-Wort als Segenswort gesprochen worden: „So spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“

Man sieht uns nicht an, dass wir getauft sind. Das ist wie mit einem Stein: Wenn wir ihn am Strand etwa im Wasser liegen sehen, sieht er wunderbar aus. Wir nehmen ihn vor Begeisterung mit, und am anderen Morgen, wenn der Stein getrocknet ist, sind wir vielleicht enttäuscht: Er sieht gar nicht mehr so gut aus. So ist das auch bei uns. Der Augenblick der Taufe war ein ganz besonderer, Gottes Zuspruch stand im Raum. Unsere Eltern, Paten und Patinnen waren gerührt von der Anwesenheit Gottes. Aber dann – im Laufe des Lebens – sieht man uns nicht an, dass wir getauft sind bzw. wir vergessen es nahezu. Da ist es schon gut, erinnert zu werden, um wieder zu hören, dass wir Gottes geliebte Kinder sind. Und wenn es uns nicht gut geht – das passiert in diesen Zeiten noch öfter als sonst –, sollten wir uns vielleicht wie Martin Luther einen Zettel schreiben und ihn etwa an den Spiegel heften, damit wir schon morgens erinnert werden, Gottes geliebtes Kind zu sein.

Die Liebe und Zuwendung Gottes zu uns bedeutet eine ganz besondere Wertschätzung. Sich dieser Wertschätzung Gottes immer wieder bewusst zu werden, ist der Sinn der Tauf­erinnerung. Wenn wir uns in besonderem Maße geliebt fühlen, bringt uns das dazu, auch unsere nahen und fernen Nächsten, unsere Mitgeschöpfe und die gesamte Schöpfung Got­tes in ihrer ganzen Pracht und Schönheit wahrzunehmen, ebenfalls Wert zu schätzen, sie zu achten und uns mit viel Empathie und Herzblut für ihren Erhalt und Schutz einzusetzen.

Dann behalten wir Kraft, unseren Platz in dieser Welt zu behalten. Auch und gerade in diesen Zeiten ist es so wichtig, uns der guten Schöpfung Gottes bewusst zu werden und sie wieder mehr zu schonen und zu beten:

Herr, unser Schöpfer,
gesegnet hast du deine Geschöpfe,
Menschen und Tiere,
aus deiner Hand kommen sie und wir.
Deine Liebe hat uns zusammengebracht.
Wir haben uns von dir entfernt
und darum die Mitgeschöpfe preisgegeben
an Willkür, Ausbeutung und Experiment.

Herr, dein Segen bringe uns wieder zusammen.
Lass uns den Regenbogen erkennen,
der über uns und sie gespannt ist.
Mache uns wieder dankbar für dein Geschenk,
öffne uns die Augen für den Reichtum dieser Erde.

Segne uns durch neues Staunen.
Lass uns auf die Sprache achten,
die Bruder und Schwester Tier sprechen,
lass uns achten auf die Sprache
von Pflanzen, Blumen und Bäumen.

Segne uns durch neue Freude über alle Geschöpfe
und halte uns verbunden in dir.

Eberhard Röhrig (Schöpfungssegen)

Amen.

Bleiben Sie behütet!

Ihre Pfarrerin Erika Engelbrecht

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

noch ganz unter dem Eindruck der Ereignisse hier im Kreis Gütersloh rundum Tönnies lese ich den Predigttext für Sonntag. Und es kommen mir aus der erzählten biblischen Szene Themen entgegen wie: Nahrungsmittel, wirtschaftlicher Erfolg oder auch Misserfolg, Schuld, Arbeit unter harten Bedingungen, Schrecken und der Aufruf, anders zu leben.

Immerhin: es geht nicht um Fleisch, schon gar nicht um Billigfleisch, sondern um Fisch. Das ist vielleicht ein guter Hinweis, beide Lebenswelten, unsere und die des biblischen Textes, nicht vorschnell zu vermengen. Schließlich spielt die Szene aus dem Lukasevangelium zu anderer Zeit an einem anderen Ort. Hier der Text aus dem 5. Kapitel:

1Einmal drängte sich die Volksmenge um Jesus und wollte hören, wie er Gottes Wort verkündete. Jesus stand am See Gennesaret  2Da sah er zwei Boote am Ufer liegen. Die Fischer waren ausgestiegen und reinigten die Netze. 3 Jesus   stieg in eines der Boote, das Simon gehörte. Er bat Simon, ein Stück vom Ufer wegzufahren. Dann setzte er sich und sprach vom Boot aus zu den Leuten. 4Als Jesus seine Rede beendet hatte, sagte er zu Simon: »Fahre hinaus in tieferes Wasser! Dort sollt ihr eure Netze zum Fang auswerfen!«  5Simon antwortete: „Meister, wir haben die ganze Nacht hart gearbeitet und nichts gefangen. Aber weil du es sagst, will ich die Netze auswerfen.«  6Simon und seine Leute warfen die Netze aus. Sie fingen so viele Fische, dass ihre Netze zu reißen drohten. 7Sie winkten die Fischer im anderen Boot herbei. Sie sollten kommen und ihnen helfen. Zusammen beluden sie beide Boote, bis sie fast untergingen.8Als Simon Petrus das sah, fiel er vor Jesus auf die Knie und sagte: „Herr, geh fort von mir! Ich bin ein Mensch, der voller Schuld ist!« 9Denn Schrecken ergriff ihn und die anderen, die dabei waren, weil sie einen so gewaltigen Fang gemacht hatten. 10So ging es auch Jakobus und Johannes, den Söhnen von Zebedäus. Sie arbeiteten eng mit Simon zusammen. Da sagte Jesus zu Simon: »Hab keine Angst!  Von jetzt an wirst du ein Menschenfischer sein!« 11Da zogen sie die Boote an Land, ließen alles zurück und folgten Jesus.          

 

Ich steige gleich mitten in die Geschichte ein und zwar bei der Reaktion des Simon auf den Superfang, den sie gemacht haben. Seine Reaktion finde ich nämlich erstmal irritierend. Eher denkbar wäre ja so etwas gewesen wie:  „Hammer! Das war ja der Super-Tip. Jesus, kannst du uns nicht öfter so helfen. Dann könnten wir unsere Schulden bezahlen, Netze reparieren, sogar mal ein Fest feiern, - oder vielleicht auch eine Kooperative aufbauen. Dann hätten wir mit unseren Familien wenigstens etwas mehr Sicherheit und nicht ständig die Angst, in Schuldsklaverei zu müssen.“

So hätte es sein können. Doch Simon reagiert anders. Ihn packt der Schrecken. Biblisch ist er da in guter Gesellschaft. Immer wieder wird erzählt: wenn Menschen vom Geheimnis Gottes angesprochen werden, ist das für sie auch mit Schrecken verbunden. Vielleicht, weil sie etwas von der Macht Gottes spüren, das Gefühl haben, ausgeliefert zu sein, nicht mehr kontrollieren zu können. Und weil sie im Kontakt mit Gott ahnen: Mein Leben kann nicht so bleiben wie es ist.

Jesus, so beginnt unsere Szene, ist ja ins Boot von Simon gestiegen, um zu den vielen Menschen, die ihn aufsuchen, zu sprechen. Worüber hat er gesprochen? Über das Reich Gottes. Etwa so:  „Jetzt, heute und hier ist die Zeit gekommen, dass Gott einen neuen Anfang macht. Es geht um ein gutes Leben für die Abgehängten, die Armen, die  an Leib und Seele Erkrankten. Und Ihr: Ihr könnt dabei sein. Ihr sollt dabei sein Dazu ruft Euch Gott. Ändert Euer Leben!“

Ich vermute, Simon war beim Zuhören schon in den Bann von Jesus geraten, hatte dessen Macht gespürt. Sonst hätte er sich wohl kaum darauf eingelassen, gegen alle Fischererfahrung nochmal rauszufahren. Und als ihm mit dem Wahnsinnsfang diese

Macht auf den Leibe rückt, da wehrt sich etwas in ihm: „Nein. Geh weg!“ .

Simon, so lese ich die Geschichte, sieht in diesem Moment, wie weit weg sein Leben vom Reich Gottes ist. Wie wenig er in seinem Berufs- und Lebens-Alltag mit diesem Neuaufbruch zu tun hat, von dem Jesus ergriffen ist. Hier begegnet ihm der Anspruch, das eigene Leben zu ändern, ja ändern zu müssen!! Und schon ist der Widerstand da.

 

Und Jesus? Er ist Seelsorger, er sieht den Simon. Sieht seinen inneren Kampf, sieht vielleicht seine Sehnsucht und sieht auf jeden Fall das, was sich hinter der Abweisung verbirgt: die Angst.

Auf diese Angst spricht er Simon an: „Hab keine Angst!“ Und dann kommt der Auftrag: „Du bist jetzt ein Fischer im Reich Gottes.“

Und Simon ist getroffen, berührt, in der Bildlichkeit des Textes: von Jesus gefangen. In der Geschichte geschieht das von jetzt auf gleich. Vielleicht fasst sie auch im Zeitraffer zusammen, was in Wirklichkeit ein längerer Prozess war. Jedenfalls ändert Simon sein Leben, radikal. Lässt alles, was seinen Alltag vorher ausgemacht hat, und schließt sich Jesus an. Und mit ihm seine Kollegen Johannes und Jakobus.

 

Diese Geschichte hat, finde ich, einen eigenen Humor: dass im Augenblick des größten beruflichen Erfolgs die Fischer diesen in den Wind schießen und ganz neu etwas anderes beginnen. Wenn wir diese Geschichte heute hören: Wie provozierend ist das für eine Welt, in der meistens alles andere dem Wirtschaftserfolg untergeordnet wird!

Und: ich frage mich: Hilft diese biblischen Geschichte uns, das eigene Leben zu ändern? Weist  sie uns einen Weg aus der Schuld, in das System verstrickt zu sein, dass Tönnies und andere Betriebe  mit diesen Arbeitsbedingungen toleriert hat, dass viele von uns  an den Menschen aus Südost-Europa, die hier arbeiten und leben, mehr oder weniger  hat vorbei leben lassen. Hilft uns diese Geschichte aus der Verstrickung der meisten von uns, immer noch viel zu stark unseren Wohlstand über eine wirksame Klimapolitik und das Tierwohl zu stellen?

Vielleicht ist es auch weniger die biblische Geschichte selbst, die hilft. Eher  kann sie uns auf eine Spur setzen: Auf die Spur des gekreuzigten Jesus Christus, der unter uns lebendig ist.

Und ich frage mich: wie ist eine Begegnung mit ihm möglich?  Eine Begegnung; die uns nicht im Schrecken lässt, sondern in Bewegung bringt: in seiner Nachfolge?

Amen.

Ihr Pfarrer Stefan Salzmann

4. Sonntag nach Trinitatis, 5.Juli 2020 Ansprache zu Römer 12, 17-21

„Ist es möglich, so viel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden“

 

Was für ein großes Wort: „Frieden“!

Es gibt nur wenige Wörter von diesem Format.

Frieden – Ziel millionenfacher Sehnsucht.

Aber auch das Ziel millionenfach enttäuschter Hoffnung.

Denn die Mächte, die dem Frieden im Wege stehen, sind stark. Und es sind viele:

Egoismus, Ideologie, Religion – und all der Hass, der daraus erwächst.

Die Verletzungen, die nicht verheilt sind.

Und dann natürlich wirtschaftliche Interessen oder gar pure Gewinnsucht – wie viele Kriege werden um knappe Ressourcen geführt.

 

Es ist so schwer, etwas für den Frieden zu tun.

Da geben viele auf, bevor sie richtig damit begonnen haben, weil sie sich ohnmächtig fühlen.

Allein gegen die Mächte und die Mächtigen der Welt – wer will das schon?

Und wer kann das schon?

 

„Ist es möglich, so viel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden,“ sagt Paulus.

Ist es denn möglich?

Mit allen Menschen Frieden zu haben?

Wie sollen wir das anfangen?

 

Trotz aller großen Weltpolitik liegt die Quelle des Unfriedens in der Art und Weise, wie Menschen miteinander umgehen.

Feindschaft und Krieg entstehen zwischen Menschen – sie wachsen nicht aus dem Boden.

Bevor die Bibel von einem Krieg zwischen Völkern erzählt, berichtet sie vom tödlichen Streit zwischen Kain und Abel.

 

Und weil das so ist, hat die Hoffnung einen guten Grund, auch der Frieden könnte zwischen zwei Menschen beginnen.

Dadurch, dass einer lernt, sich selber anders zu sehen.

Dadurch, dass einer lernt, den anderen anders zu sehen.

Und vor allem dann dadurch, dass aus dieser anderen Sichtweise auch eine andere Verhaltensweise erwächst.

 

Unser Handeln wird davon bestimmt, wie wir die Welt sehen. Und vor allem davon, wie wir uns selbst in dieser Welt sehen.

Kain wird zum Mörder, weil er sich selbst als Opfer sieht. Er sieht sich als Opfer der Willkür Gottes, der Abels Opfer gnädig annimmt, seins aber nicht. Er steht vor seinem Opferaltar und weiß, dass er zu kurz kommt:

Er bekommt weniger Liebe von Gott als der Bruder. Der nimmt ihm alles weg. Und wenn es den Bruder nicht gäbe, dann wäre genug Liebe für ihn da.

Denkt er.

Dass diese Rechnung nicht aufgeht, erkennt er zu spät.

 

Aber genau das ist die Dynamik, aus der heraus Unfrieden und Krieg entstehen.

Wer sich selbst als Opfer sieht, möchte gern auch mal der Gewinner sein – notfalls mit Gewalt.

Dazu kommt die Angst, bedroht zu sein.

Auch dies dient nicht dem Frieden. Denn die Konsequenz der Angst ist das Bedürfnis, sich vor anderen zu schützen.

Nein, das passiert nicht nur zwischen Völkern. Auch das beginnt zwischen Menschen.

 

Gerade die, die sich selbst schwach fühlen, schlagen sicherheitshalber erst mal zu. Es ist ein unheilvoller Glaubenssatz, dass man Stärke nur mit Stärke begegnen kann und Schlägen nur mit Schlägen.

 

Christen haben andere Glaubenssätze:

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist es möglich, so viel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst.“

Solche Glaubenssätze können wirksam werden, weil Christen auch eine andere Sicht der Welt haben – und vor allem: eine andere Sicht von sich selbst.

 

Christen wissen sich von Gottes Segen begleitet.

Christen glauben daran, dass Gott ihnen Chancen zum Leben schenkt.

Christen wissen sich von Gott bejaht und leben aus seiner Gnade.

 

Mit diesen Glaubenssätzen begegnen Christen der Welt und anderen Menschen.

Und im Licht solcher Sätze lernen sie sich selbst neu sehen.

„Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahin gegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“

Das ist es, daran erinnert Paulus uns einige Kapitel zuvor.

 

Es ist nicht gleichgültig, mit welchen Glaubenssätzen man in seinem Leben unterwegs ist.

 

Aus dem Gefühl, ständig benachteiligt zu sein, immer um das Leben betrogen zu werden, zu kurz zu kommen, resultieren Streit und Kampf – Quellen des Krieges.

 

Aus dem Wissen, mit dem Leben beschenkt, in der Liebe geborgen zu sein und vom Segen begleitet zu werden, resultieren Entspannung und Geduld – Quellen des Friedens.

 

 

Unser Handeln wird davon bestimmt, wie wir die Welt sehen. Und vor allem davon, wie wir den anderen in der Welt sehen.

Welche Sicht wir als die unsere übernehmen:

Die, die uns die Welt nahe legt,

oder die, die wir lernen können, wenn wir andere Menschen mit den Augen Christi anschauen.

 

„Sei auf der Hut vor dem anderen“ sagt dir die Welt, „er ist dein Konkurrent und wird jede deiner Schwächen ausnutzen.“

Und ein Allerweltssatz lautet: „Alles, was fremd ist, ist bedrohlich“

 

In einer Welt, die von solchen unguten Ratschlägen bestimmt wird, hat sich auch Jesus bewegt.

Hier Pharisäer – da Sünder.

Hier Gesunde – da Aussätzige.

Aber er ist zu den Ausgegrenzten gegangen und hat die Trennungen überwunden. ALLE hat er mit Gott in Verbindung gebracht, die einen wie die anderen:

Die Pharisäer und die Sünder, die Gesunden und die Aussätzigen. ALLE hat er als Menschen gesehen, die Gott geschaffen hat und die er liebt.

Und er hat sie als Menschen gesehen, die bedürftig sind, die Zuwendung und Hilfe brauchen.

Und genau das lernen Christen von dem Sohn Gottes, wenn sie auf seinen Wegen gehen.

Der Mensch, der mir begegnet, ist ein Mensch, den Gott gewollt hat – genau wie mich.

Er wird sich etwas dabei gedacht haben. Er sieht etwas in diesem anderen Menschen, das ich nicht sehen kann. So wie er in mir etwas sieht, das andere Menschen vielleicht nicht sehen.

Der Mensch, der mir begegnet, ist unendlich wertvoll.

Mit den Augen Gottes gesehen, ist jedes Menschenleben unersetzlich. Und jeder Mensch ist eine Bereicherung dieser Welt.

 

Das ist doch eine wunderbare Sicht auf den anderen: genau hinzuschauen, womit gerade dieser Mensch die Welt bereichert.

Der Mensch, der mir begegnet, darf zu Gott „Vater“ sagen – so wie ich. Und damit wird man zu Geschwistern. Das bedeutet: es gibt bei allem, was uns trennen mag, etwas ganz Tiefes, das uns verbindet.

Etwas Gemeinsames, in dem wir uns immer wieder finden können.

Eine Familie, zu der wir gehören, und in der Menschen auf das Gute setzen.

„Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“ So meint es Paulus.

 

Frieden – dieses große Wort.

Es wird konkret und greifbar, wenn ich auf das schaue, was an mir liegt.

Wenn ich Schritte gehe, die ich gehen kann.

Wenn ich die neue Sicht nutze, für die mir Jesus die Augen öffnet:

Eine neue Sicht auf mich selbst und eine neue Sicht auf den anderen Menschen.

Die neue Sicht eröffnet neue Handlungsmöglichkeiten – Schritte auf dem Weg des Friedens.

 

Ob ich sie gehe, das liegt an mir!

 

 

Gedanken zum 3. Son. n. Trin., 28.06.2020, und zu Micha 7,18-20 u. Lukas 15,1-3+11-32

„Jesus sagt: Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“          Lk. 19,10

„Suchen und Finden“ – darum geht es in diesem Wochenspruch.

Und um „Suchen und Finden“ geht es in den Texten, die diesem Sonntag zugeordnet sind – und das ist unter anderem fast das ganze 15. Kapitel des Lukasevangeliums. Als Theologiestudenten haben wir immer gesagt: „Das ist das Kapitel der verlorenen Menschen, Tiere und Gegenstände.“ – oder um einige Stichworte zu nennen: „Das verlorene Schaf, der verlorene Groschen und der verlorene Sohn.“

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Haben sie auch schon einmal etwas verloren ?
Einen Schlüssen vielleicht ? Das kann ganz schön ärgerlich sein, wenn man vor der verschlossenen Wohnungstür steht und nicht hereinkommt.
Manchmal sind es aber auch nur Kleinigkeiten. Wo war noch einmal die Schere ? Mein Vikariatsmentor pflegte in so einem Moment immer zu sagen: „Suchen hilft nichts. Nachdenken, wo man sie zuletzt gehabt oder gesehen hat.“

Aber es können auch wichtigere Dinge verloren gehen:
Eine Freundschaft oder eine Partnerschaft zum Beispiel.
Oder der Traum von einem bestimmten Beruf, der von einem auf den anderen Moment zerplatzte.

Und so erfahren wir Menschen auf unseren Lebenswegen immer wieder im Kleinen und im Großen, dass etwas verloren geht. Und manchmal sind es auch wir selbst, die wir uns verlieren. Das lesen wir im Gleichnis vom verlorenen Sohn – doch eigentlich müsste es das Gleichnis von den zwei verlorenen Söhnen heißen.

Und an diesem Sonntag der verlorenen Gegenstände, Tiere und Menschen hören wir von Jesus:
„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“
Dieses Versprechen gilt jetzt auch für uns.

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Doch das mit dem „Suchen und Finden“ ist so eine Sache.
Und zum Thema „Suchen und Finden“ lesen wir etwas sowohl im Prophetenbuch des Micha, als auch im Lukasevangelium. Sie können beide Texte ja einmal nachlesen.

Doch eigentlich ist die ganze Bibel ein Buch, in dem in vielfältiger Weise davon erzählt wird,

  • wie Gott uns Menschen nachgeht
  • wie er immer wieder vergibt, woran wir scheitern
  • wie seine Liebe sich durch schier Garnichts erschüttern lässt
  • wie seine Geduld mit uns unendlich zu sein scheint
  • und wie er einfach nicht von uns, seinen Geschöpfen, lassen kann
  • sondern am Ende immer mit offenen Armen auf uns wartet – wie der Vater in Jesu Gleichnis.

Kurz: die ganze Bibel ist so etwas wie die Liebeserklärung Gottes an uns – oder anders gesagt: Sie ist Gottes Liebesgeschichte mit uns – eine meist sehr einseitige Geschichte, in der er uns immer wieder neu nachgeht um uns zu finden.

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Und genau darum, dass Gott Menschen nachgeht und sie neu findet, geht es auch im Prophetenbuch des Micha.

Gott schickt Micha hier zu seinem Volk, das sich von ihm abgewendet hatte.
Und Gott legt ihm seine Worte in den Mund.
Es sind harte Worte des Gerichts.

Unheil soll über die Städte kommen.
Die Machthaber werden in ihrem unrechtmäßigen Handeln entlarvt.
Sie nehmen den einfachen Menschen ihre Äcker und ihr Hab und Gut weg.
Und für sie ist das Volk nur die Quelle ihrer eigenen maßlosen Bereicherung.
Sie rauben es aus.
Lassen sich bestechen.
Und leben dabei selbst in Saus und Braus.

Gnadenlos rechnet der Prophet im Auftrag Gottes mit den Städten im Land ab, mit den Regierenden, mit den Führenden der Gesellschaft, die sich an all dem Unrecht beteiligen – ja, am Ende rechnet er sogar mit den religiösen Führern ab, die zu allem schweigen – oder ebenfalls mitmachen.

Und auch über das einfache Volk bricht der Prophet den Stab, denn auch sie machen bei Lug und Trug mit wo sie nur können.

„Der beste unter ihnen sei wie ein Dornstrauch und der redlichste unter ihnen schlimmer als eine Dornenhecke“ – sagt der Prophet. Wir würden heute vielleicht sagen: „Der beste und redlichste ist wie Giersch im Garten.“

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Immer wenn ich in den Prophetenbüchern des Alten Testaments lese, dann denke ich: „Irgendwie kommt dir das alles bekannt vor.“
Und wenn ich anschließend in die Zeitung schaue oder Nachrichten höre, denke ich: „So einen Propheten, der schonungslos die Wahrheit sagt, den könnten wir heute auch ganz gut gebrauchen.“

  • „Black lives matter“ – würde er vielleicht auf seinem Plakat stehen haben.
  • Und neben Greta würde er sich für den Erhalt der Schöpfung einsetzen.
  • Er würde die Diktatoren unserer Zeit an ihre Verantwortung für die Menschen ihres Landes erinnern.
  • Den Terroristen vom IS oder von Boko Haram würde er sagen, dass ihre Gewalt und ihr Töten nicht durch auch nur irgendeine Religion auf dieser Erde zu rechtfertigen ist.
  • Und dass wir über unser Verhältnis zu billigem Fleisch nachdenken müssen würde er uns ebenfalls sagen.

So ein Prophet würde heute aber auch

  • strukturelles Unrecht anprangern und die Lieferketten hinterfragen
  • er würde uns sagen, dass wir für Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sind, wenn wir Geschäfte mit Ländern machen, die Menschenrechte verletzten
  • er würde uns zwingen die Augen dafür zu öffnen, dass jede und jeder von uns Teil eines ungerechten Systems ist – eines Systems, das wir verändern könnten, wenn wir denn nur wollten.

Er würde keine Ausrede zulassen – kein: „Was kann ich schon tun ?“ und kein: „Da kann man nichts machen.“
Ja, er würde uns allen – Kleinen und Großen gleichermaßen – genauso auf die Füße treten, wie vor gut 2 ½ tausend Jahren es Micha getan hat.
Er würde uns einen Spiegel vorhalten, der schonungslos wiedergibt, was alles bei uns falsch läuft. Und dieser Spiegel würde keine Schönfärberei zulassen, sondern uns die Wirklichkeit ungeschminkt vor Augen malen.
Ja, damals und heute verstehen wir Menschen es hervorragend, uns selbst zu betrügen und Rechtfertigungen für unser Handeln zu finden, das eben nicht zu rechtfertigen ist.

Viel zu oft verlieren wir Menschen so uns selbst – und wir verlieren Gott, weil wir uns von ihm abwenden.

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Aber Gott wäre nicht Gott, wenn diese harten prophetischen Worte seine letzten wären. Und so kann Micha am Ende seines Prophetenbuchs eben auch sagen:

„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat gefallen an Gnade ! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und all unsere Sünden in die Tiefe des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unseren Vätern vorzeiten geschworen hast.“  ( Micha 7,18-20 )

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Vom „Suchen und Finden“ handeln diese Worte. Von Gottes Suchen – und wie er seine Menschen immer wieder neu dadurch findet, dass er ihnen nachgeht und ihnen gnädig ist. Er räumt weg, was wir aufgebaut haben und was uns von Gott, voneinander und auch von uns selbst trennt.

Und er erneuert so immer wieder neu das Versprechen, das er schon den Vorvätern gegeben hat.

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Micha war nicht der letzte Prophet, den Gott zu seinen Menschen geschickt hat.
Immer wieder waren welche nötig.

Und zuletzt ist Gott in Jesus Mensch und unser Bruder geworden – auch wieder, um uns zu suchen und zu finden.

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Und dann ?
Als von Gott neu in den Arm genommene Menschen können wir doch nicht einfach so weitermachen, wie bisher.
Das gilt auch für den verlorenen Sohn, von dem Jesus im Gleichnis erzählt hat. Leider sagt er kein Wort darüber, wie diese Erfahrung ihn verändern hat und wie sein weiteres Leben dann wohl ausgesehen hat.

Aber ich stelle mir vor, dass er von dem Tag an so gelebt hat, dass andere auf ihn aufmerksam geworden sind.

Ja, ich denke, dass er auffiel – durch das, was er tat – und mehr noch durch all das, bei dem er nicht mehr gedankenlos mitmachte.

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Und solche Menschen dürfen wir ebenfalls sein:
Menschen, die auffallen,
Menschen, die sich einmischen,
Menschen, die Unrecht beim Namen nennen,
Menschen, die sensibel sind für andere – auch für den großen Bruder, der ja zuerst gar nicht glücklich über die Rückkehr seines verlorenen Bruders war,
Menschen, die selbst für andere zu Prophetinnen und Propheten werden.

Und wenn sie jetzt sagen: „Das kann ich nicht.“ Dann sagen sie etwas Richtiges.
Wir können das nicht von uns aus.
Aber als von Gott gesuchte und gefundene können wir das und noch viel mehr, weil wir nicht alleine sind.

Amen.

Ihr Pfarrer Ulrich Klein

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