Predigt zum kommenden Sonntag nach Trinitatis von Pfarrer Eckhard Heidemann - Evangelische Kirchengemeinde Gütersloh

Liebe Gemeinde!

Der für den kommenden Sonntag vorgeschlagene Predigttext ist uns überliefert im 7. Kapitel des Prophetenbuches Micha. Nach massiven Anklagen und Warnungen angesichts zum Himmel schreiender gesellschaftlicher Missstände endet der Text mit diesen Worten:

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.

Was wir hier hören, liebe Gemeinde, ist Evangelium pur, ist Freudenbotschaft. Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt, fragte Micha einst staunend. Doch dieses Staunen geschieht nicht im luftleeren Raum. Sondern es steht am Ende eines Dramas, das man zwischen den Zeilen noch spürt. Darum muss auch davon die Rede sein. Denn wer sich die Zeit und Lebenswelt des Propheten hineinversetzt, den packt die Wut. Landraub ist an der Tagesordnung. Bestechliche Richter sprechen Recht für Geld. Jeglicher Gemeinschaftssinn ist verloren gegangen. Der Prophet klagt das Unrecht an. Sein Buch ist ein Buch für alle diejenigen, die sich auch heutzutage nicht damit abfinden können, dass die Welt so ist, wie sie ist. Denn wer die scharfen, entlarvenden Worte liest, wird nicht umhin können, die Zeitung daneben zu legen und kaum weniger wütend zu sein über Ausbeutung, Korruption und Rechtsbeugung an so vielen Orten dieser Welt in der Gegenwart. Manchmal liegt das Übel ganz nahe. Micha vergleicht die Reichen und Einflussreichen mit Metzgern, die ihren wehrlosen Opfern die Haut abziehen und ihr Fleisch zerlegen. Kein Schelm ist, wer jetzt an Tönnies denkt. Die Zahl der Corona-Infektionen im Schlachtbetrieb vor unserer Haustür und die sich daraus ergebenden Folgen für den Kreise Gütersloh, Warendorf und noch weit darüber hinaus schockieren. Schuldige und Verantwortliche für diese Katastrophe sind schnell gefunden und benannt. Clemens Tönnies an der Spitze, aber auch Politiker und Behörden, die viel zu lange geschwiegen und tatenlos mit angesehen haben, was in der Fleischbranche allgemein und nicht allein dort vor sich geht. Auch die Infizierten selbst sind gegenwärtig einem Spießrutenlauf ausgesetzt, vornehmlich Arbeitskräfte aus Südosteuropa, angeworben und beschäftigt über Sub-Sub-Unternehmer mit Niedrigstlohn-Knebel-Werksverträgen und einquartiert in heillos überbelegte Unterkünfte – häufig in Schrottimmobilien. Dieses ganze System ist krank und menschenunwürdig. Corona ist der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt, dessen Füllstand bis zum Rand allerdings lange vorher schon uns allen vor Augen stand oder hätte stehen können. Wir alle sind Teil des Systems und tragen Mitschuld an den herrschenden Verhältnissen und aktuellen Geschehnissen. Bevor wir also Schuldige oder Sündenböcke suchen und benennen, müssen wir selbst unser eigenes Verhalten kritisch hinterfragen und dürfen nicht die Augen verschließen vor dem Unrecht, das unser eigenes Tun oder Lassen schafft, ermöglicht oder zulässt. Am vergangenen Samstag war in der Neuen Westfälischen ein bedenkenswerter Leserbrief eines Herrn Wildenhof abgedruckt zum Thema, den ich an dieser Stelle in voller Länge zitieren möchte. Da heißt es: „Hunderte Infizierte, Tausende in Quarantäne, der Kreis schließt Schulen und Kindertagesstätten und weitere Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV2 sind nicht ausgeschlossen. Viele geben jetzt der Firma Tönnies bzw. Herrn Tönnies die Schuld. Aber ist es nicht zu einfach? Ist Tönnies nicht das Werk all jener, denen billig vor Qualität geht? Ist Tönnies nicht erst entstanden, weil vielen Menschen die Preise beim Fleischer nebenan zu teuer waren und sie lieber im Supermarkt oder beim Discounter kauften? Das Virus zeigt uns allen sehr deutlich, wie klasse es die ‚Geiz-ist-geil‘- Mentalität findet, egal ob in der Fleischindustrie, bei den umweltbelastenden und teilweise selbst giftigen Produkten aus Fernost oder Schnittblumen aus Afrika, die früher so gut wie jedes Blumengeschäft im eigenen Gewächshaus selbst gezogen hatte. Das Virus kommt nicht von ungefähr und es werden weitere folgen, wenn kein Umdenken stattfindet.“ Zitat Ende.

Jüngst hat mitten in der Stadt der Weltladen Gütersloh neu eröffnet. Manche ärgern sich darüber, andere schütteln verständnislos den Kopf und prophezeien ein rasches Ende des ehrgeizigen Unternehmens. Aber es gibt auch solche, die denken und die sagen: Gerade jetzt und gerade an diesem Standort. Die angebotenen Waren sind allesamt hochwertig und brauchen sich nicht zu verstecken hinter vergleichbaren in anderen Geschäften. Ja, manche kosten ein paar Cent oder auch Euro mehr. Aber dieses Mehr bedeutet einen Mehrwert, der in Euro und Cent gar nicht ausgedrückt werden kann: nämlich Fairness gegenüber Produzenten, Gerechtigkeit und Menschenwürde im Blick auf Arbeitsbedingungen. Bio steht häufig auch noch auf den Verpackungen, das heißt: es wird auf natur- und ressourcenschonende Produktionsbedingungen geachtet zum Wohle unseres Planeten. Für uns gibt es nur diese eine Erde. Meine Empfehlung: Verzehren Sie zum Beispiel eine Tafel Schokolade weniger, was ja auch gar nicht ungesund ist, gönnen Sie sich aber dann und wann eine aus dem Weltladen. Ich verspreche Ihnen: Sie werden begeistert sein von Geschmack und Qualität. Und sollten Sie einen richtig guten fair gehandelten Wein suchen, so sprechen Sie mich gerne einmal darauf an. Ich bin mir selbst und auch Ihnen gegenüber diesbezüglich ganz ehrlich: Das erste und wichtigste Kriterium für mich lautet: Der Wein, die Schokolade, der Kaffee oder ein anderes Genussprodukt muss von guter Qualität und schmackhaft sein. Wenn es darüber hinaus fair gehandelt und mit einem Bio-Label versehen ist, um so besser. Fair und Bio allein ist für mich aber nicht alleiniges Kaufargument, vor allem dann nicht, wenn das Produkt die Magenschleimhaut schmerzhaft angreift oder – mit Loriot gesagt – so ein pelziges Gefühl auf der Zunge hinterläßt.

Nächstes Thema: Karstadt. Die jüngst beschlossene und verkündete Schließung des Standortes Gütersloh trifft vor allem die bisher dort Beschäftigten, aber auch die gesamte Stadt als eine weitere Katastrophe. Ja, wir lasen und hörten von finanzieller Schieflage seit Jahren, auch von Missmanagement in der Vergangenheit. Corona hat dem Unternehmen nun einen weiteren Stoß versetzt. Wir beobachteten und beobachten das mit Sorge. Jetzt empfinden wir Enttäuschung, vielleicht auch Zorn oder Trauer und wir fragen uns bange: Was wird werden? Aber ebenso sollten wir uns fragen: Tragen nicht auch wir mit unserem Kaufverhalten Mitverantwortung dafür, dass unsere Innenstädte mehr und mehr veröden, dass Fachgeschäfte und sogar Kaufhäuser mit breitem Sortiment verschwinden und offenbar nur noch 1-Euro-Shops, Handyläden oder Nagelstudios überleben können, während Internetriesen wie Amazon Milliardenumsätze generieren und weiter und weiter wachsen?

Liebe Gemeinde, ich spreche heute sehr konkret. Denn der vorgegebene Predigttext ist ein prophetischer Text. Und was die uns überlieferte biblische Prophetie auszeichnet, ist eben genau dies: Sie schließt nicht die Augen und den Mund vor den Missständen und drängenden Herausforderungen der jeweiligen Zeit. Sie will aufrütteln, sie will warnen. Sie will zur Besinnung und Umkehr führen. Möglich ist das aber nur dann, wenn Unrecht und Übel nicht totgeschwiegen werden. Nein, das darf um Gottes willen nicht sein. Der Prophet Micha stellt ihn uns vor Augen als den, dessen Vergebung den Zorn noch nicht hinter sich gelassen hat: Die Sünden, dieses himmelschreiende Unrecht, dass den einfachen Leuten widerfahren ist, tritt er kurz und klein und schleudert es ins Meer. Er kann diesen Irrsinn nicht länger mehr ertragen. Er handelt, um etwas Neues zu schaffen. So gibt er seinem Zorn eine klare Richtung: Er tritt die Tat, er trifft das Unrecht selbst und nicht die Täter. In gleicher Weise hat Jesus gehandelt im Umgang mit denen, die Schuld auf sich geladen hatten. Ihre Taten spricht er schonungslos an und verurteilt sie, diejenigen aber, die sich verschuldet haben, nimmt er an und spricht sie frei. So eröffnet er ihnen die Möglichkeit zur Besinnung und Richtungskorrektur auf neuen Wegen. Auf diesen Jesus blickend und ihn als Christus bekennend, stehen wir, liebe Gemeinde, in seiner Nachfolge. Auch wir wissen uns durch ihn begnadigt und befreit, angenommen und geliebt und brauchen gerade deshalb bestehendes Übel nicht zu verschweigen. Gott in und durch seinen Christus eröffnet uns einen weiten Raum für Neues dank des Zuspruches der Vergebung, der uns ermutigt und kräftigt zu einem Leben und Zusammenleben, das gekennzeichnet ist von Gerechtigkeit und Gemeinsinn. Dankbar dafür und darüber staunend können wir deshalb nun auch mit Micha sprechen: Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Amen.

Ihr Pfarrer Eckhard Heidemann

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